In den Räumlichkeiten eines ehemaligen Ottakringer Kinos konnte das Filmarchiv Austria eine außergewöhnlich umfangreiche Sammlung aus den Pionierjahren des Films in Wien entdecken. Nicht nur frühe Filmplakate, Programmhefte, Geschäftsunterlagen und historische Fotos wurden hier aufbewahrt, sogar Einrichtungsgegenstände aus dem alten Stummfilmkino und eindrucksvolle Zeugnisse der frühen Kinowerbung haben sich erhalten.
Mit diesem »Kinoschatz aus Ottakring« ist es möglich, erstmals einen tiefen Einblick die Anfangsjahre des Kinos in Wien zu gewinnen und der Faszination des damals noch ganz jungen Mediums Film nachzuspüren.
HIMMEL AUF ERDEN
DAS ERSTE KINO IN OTTAKRING
Das frühe Kino hat sich vor allem im Schausteller- und Jahrmarkts-Milieu rasch entwickelt und verbreitet. Das erste Ottakringer Kino wurde 1906 von der Familie Klein gegründet, im Prater betrieben die Schausteller bereits seit 1905 den »Kinematograph-Sprechend-Pfeifend-Lebende-Bilder«. Kino war in den Anfangsjahren ein Feuerwerk der Attraktionen, es gab Stummfilm-Erklärer, Live-Musik und sogenannte Tonbilder, erste mehr oder weniger synchron präsentierte Tonfilme.
»Kinematograph-Sprechend-Pfeifend-Lebende-Bilder«, 1905
Dieses Spektakel brachten die Schausteller nun auch nach Ottakring, am 24. November 1906 eröffnete Leopold Klein das »Bio-Photophon-Theater«, eine Anspielung auf die hier ebenfalls gezeigten frühen Tonfilm-Experimente. Beworben wurde der in der Ottakringer Straße 79 angesiedelte, erste ortsfeste Betrieb des Bezirks mit »Vorführung lebender Photographien, singende, sprechende und musizierende Bilder«.
Tonbild »Steinklopfer-Marsch« mit Mirzl Hofer, 1908
Anfang 1907 erhielt das erste Ottakringer Kino die Bezeichnung »Kinematograph – Himmel auf Erden«. Kurze Zeit später musste sich Leopold Klein tatsächlich in den Himmel verabschieden, im Frühjahr 1907 verstarb der Kinobesitzer.
FAMILIE Nehéz
WIENER KINOPIONIERE
Karussell von Johann Nehéz
Bereits am 7. September 1907 wurde das Kino in der Ottakringer Straße vom Karussell-Schausteller Johann Nehéz als »American Bioscop« wiedereröffnet. Das erste Programm präsentierte die ganze Palette früher Kinoattraktionen, darunter auch »Weiblicher Ringkampf« der damals führenden dänischen Firma Nordisk-Film.
Eröffnungsprogramm 1907
des »American Bioscop«
des »American Bioscop«
KVINDELIGE BRYDERE (WEIBLICHER RINGKAMPF), 1907
Schnell gelang es Nehéz, das »American Bioscop« zu einem Publikumsmagneten zu machen. Der Erfolg motivierte den geschäftstüchtigen Unternehmer, seine Fühler nach weiteren Betrieben auszustrecken. 1908 eröffnete er ein weiteres »American Bioscop« auf der Hernalser Hauptstraße 78 und bald sollte Nehéz sieben Kinos in vier verschiedenen Bezirken betreiben.
Elektro-Theater »American Bioscpop«, um 1908
Email-Schild Wochenprogramm Hernalser Kinotheater, 1908–1913
Sophie Nehéz
DIE ERSTE FILMVORFÜHRERIN WIENS
Johann Nehéz gehörte zu den Kinobetreibern der ersten Stunde. Eine mindestens ebenso wichtige Funktion nahm seine Gattin Sophie Nehéz ein, die als erste Frau 1908 die Zulassungsprüfung als Filmvorführerin absolvierte. Das Hantieren mit den Filmprojektoren war damals im wahrsten Sinne des Wortes feuergefährlich. Projektoren wurden mit offenem Kohlenbogenlicht betrieben, zusammen mit dem damals gebräuchlichen, leicht brennbaren Nitrofilmmaterial ergab dies eine hochexplosive Mischung.
Legitimationskarte Sophie Nehéz, ca. 1908
Bereits am 3. November 1907 kam es im American Bioscop nach einem Kurzschluss zu einem Nitrofilmbrand. Die 150 anwesenden Besucher konnten unbeschadet flüchten, der Betrieb musste aber für einige Wochen gesperrt werden.
Ein Nitrofilm-Brand zerstört das Kino in INGLOURIOUS BASTERDS (US 2009)
Dem enormen Besucherandrang tat dies keinen Abbruch, 1909 vergrößerte Nehéz den Saal auf 200 Plätze. Jetzt häuften sich aber die Beschwerden des Hauseigentümers. Die Familie Nehéz hielt daher Ausschau nach einem größeren Betrieb, einen idealen Ort fand man bald in unmittelbarer Nachbarschaft.
Das Zentreal-Theater
EIN KINOPALAST FÜR OTTAKRING
Zentraltheater für Kinematographie, 1911
Auf dem Grundstück Johann-Nepomuk-Berger-Platz Nr. 6 errichtete die Familie Nehez ein Wohnhaus, in das ein großer Kinosaal mit 600 Plätzen integriert wurde. Damit schuf man mitten im Zentrum des Arbeiterbezirks einen veritablen Lichtspielpalast.
Das neue Kino wurde als »Zentral-Theater« am 26. August 1911 feierlich eröffnet. Das Ambiente wartete mit einem großzügigen Galeriebereich, prächtigen Lustern und einem weitläufigen Foyer auf. Der theaterähnliche Saal verfügte über elektrische Ventilation, einen elektrischen Vorhang, umfangreiche Sicherheitsausstattung und 12 Ausgänge.
Zur Eröffnung wurde der aktuelle Film über die Vermählung des Erzherzog Karl Franz Josef und der Prinzessin Zita von Parma auf Schloß Schwarzau gezeigt. Eine 10-köpfige, hauseigene Musikkapelle begleitete den Stummfilm, am Filmende intonierte das Orchester »Oh du mein Österreich«.
VERMÄHLUNG DES KÜNFTIGEN TROHNFOLGERS ERHHERZOG KARL FRANZ MIT PRINZESSIN ZITA VON PARMA AUF SCHLOSS ZU SCHWARZAU, 1911
Zur Stummfilmbegleitung setzten die Musiker:innen auch Geräusch-Effekte und spezielle Instrumente ein. Damit konnte man punktgenau Töne simulieren und den Realitätseindruck noch weiter steigern.
Teufelsgeige für Stummfilmbegleitung im Ottakringer Zentraltheater, ca. 1911
LUXUS UND MARKETING
KINOMANIA IN OTTAKRING
In allen Bezirken Wiens wurden nun neue Kinos gegründet, Anfang der 1910er-Jahre brach ein regelrechter Kulturkampf um das Kino aus. Die Bewahrungs-Pädagogen beklagten die sittenverrohende Wirkung der Laufbilder und sahen den Jugendschutz in Gefahr. Die aufstrebende Branche hingegen befürchtete legistische Restriktionen und wirtschaftliche Einschränkungen. In dieser aufgeheizten Stimmung gingen einige Kinobesitzer in die Offensive und präsentierten sich selbst als honorige Vertreter einer neuen Kunst. Der Wiener Kinoausstellung 1912 wurde zu einer ersten Leistungsschau in eigener Sache.
ZUR KINOAUSSTELLUNG, 1912
Das Ottakringer Zentraltheater zählte zu jenen prestigeträchtigen Neubauten, mit denen man das Schmuddel-Image der alten Schaubuden endgültig hinter sich lassen wollte. Maß nahm man nun an der bürgerlichen Hochkultur – nicht selten am Theater. Zu dieser neuen Kino-Theaterkultur gehörte nicht nur das gediegene Interieur des Filmpalastes, sondern auch werbetechnische Accessoires wie eigene Plakate, Programmzettel und selbst gestaltete Kinoprogramme.
Plakat, Anzeige und Werbefolder für dasZentr Zentraltheater, 1910er-Jahre
Johann Nehéz ging aber noch einen Schritt weiter. Als vermutlich erster Kinobesitzer Wiens konzipierte er gezielte Marketing-Aktionen und startete regelrechte Kino-Kampagnen. Für die Schulkinder ließ er eigene Kalender und kleine Daumenkinos produzieren. Und für die Erwachsenen gab es Zündholzschachtel-Halter und kleine Gesellschaftsspiele, alles mit dem Aufdruck »Zentral-Theater für Kinematographie. Direktion J.L. Nehéz«.
Werbeobjekte des Zentraltheater um 1912
Die umtriebigen Kinobesitzer ließen sogar eine eigene Lokalaufnahme von einem Festzug der Ottakringer Gastwirte anfertigen. Den Film und damit unter Umständen auch sich selbst konnte das P.T. Publikum dann wenige Tage später im Zentral-Theater bewundern.
FESTZUG DER BEZIRKSVERTETUNG DER GASTWIRTE WIEN 16
Die führende Position des Ottakringer Zentral-Theater konnten Johann und Sophie Nehéz die ganze Stummfilmzeit hindurch behaupten. Die erhaltenen, großteils in Wiener Ateliers hergestellten Filmplakate belegen das durchaus auch anspruchsvolle Programmangebot.
DAS ZENTRALTHEATER
EINE WIENER KINOGESCHICHTE
Mit dem Beginn der Tonfilmzeit standen wieder große Investitionen an, die gesamte Kinotechnik musste umgebaut werden. Vom Juni bis September 1931 erfolgte mit der Installierung der neuen Geräte auch gleich die ganze Renovierung des Zentral-Theaters. Das Fassungsvermögen wurde auf 652 Sitzplätze erhöht.
Zentraltheater Kinoansicht und Reklame als Ton-Kino, um 1935
Nach dem »Anschluss« änderte sich der Name des Kinos 1940 in ZENTRALTHEATER-LICHTSPIELE. Mit dem Eintritt in die NSDAP hoffte Nehéz, den Betrieb unbeschadet auch in den Kriegsjahren weiterführen zu können.
Außenansicht Zentraltheater-Lichtspiele und Reklame, o. J.
Nach Kriegsende fürchtete Nehéz den Verlust der Konzession wegen seiner NSDAP-Mitgliedschaft und verkaufte 1945 50 % der Anteile an den politisch unbelasteten, jüdischen Stefan Perlmann. Dennoch wurde die Konzession an die Kiba übertragen. Die Wiedereröffnung erfolgte am 5. Mai 1945 mit DIE FRAU MEINER TRÄUME. 1947 wurde das Kino aus der öffentlichen Verwaltung entlassen, und Nehéz übernahm erneut die Geschäftsführung.
Kassabereich Zentral-Kino, um 1957
1957 wurde das Kino noch einmal im großen Stil aufgerüstet. Mit Breitband und VistaVision investierte man – auch angesichts der drohenenden Konkurrenz des Fernsehens – in das ganz große Filmerlebnis. Trotz aller Bemühungen war der riesige Kinopalast spätestens mit Beginn der 1960er-Jahre nicht mehr gewinnbringend zu führen. Am 29. Dezember 1966 fand die letzte Filmvorführung statt, mit DIE HARTGESOTTENEN / NOI DURI (I 1959, R: Camillo Mastrocinque) wurde der Betrieb für immer geschlossen.
DORNRÖSCHENSCHLAF UND WIEDERENTDECKUNG
Rund 50 Jahre nach dem Ende des Kinobetriebes lernte das Filmarchiv Austria Stefan Nehéz, den Enkelsohn der Kinopioniere Johann und Sophie Nehéz, kennen. Das sollte sich als Glücksfall erweisen, denn Nehéz hatte in den Nebenräumlichkeiten des ehemaligen Zentral-Kinos viele Unterlagen, Objekte und Materialien – über ein halbes Jahrhundert Wiener Kinogeschichte – archiviert.
Dieser »Kinoschatz von Ottakring«, der mit diesem Digitorial erstmals veröffentlicht wird, konnte inzwischen vom Filmarchiv Austria übernommen werden. Auch ein sentimentaler filmischer Neujahrsgruß der Familie Nehéz aus der tiefsten Stummfilmzeit hat sich erhalten, das einzige Filmdokument mit den Ottakringer Filmpionieren.